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Corona-Notbremse: Eine Republik im Wartezimmer

2021-04-15T12:49:54.346Z


Lange hat die Regierung warten lassen in der Pandemie – auch die Notbremse vollbringt das Kunststück, träge und voreilig zugleich zu sein. Warum das eine Machtdemonstration ist, die geradezu surreal zermürbt.


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Szenenbild aus Kafka-Verfilmung »Der Prozess« von 1962: Selten hat sich die Politik der Kanzlerin entmutigender angefühlt

Foto: ddp images

16 Tage spannte uns Kanzlerin Angela »Ich werde nicht 14 Tage tatenlos zuschauen und es passiert nichts« Merkel auf die Folter und schaute zu, wie wir ihr beim Warten zuschauten. Es passierte lange nichts, und das mit großem Eifer. Man erzeugte erfolgreich einen hektischen Stillstand, man ghostete uns und ließ uns schweigend warten. Jetzt, mit all den steigenden Zahlen bei den Inzidenzen, den Intensivbettenbelegungen oder den Toten, kommt allmählich eine neue Agitiertheit ins regierende Tun. Aber auch sie vollbringt das Kunststück, gleichsam träge wie voreilig zu sein.

Samira El Ouassil

Foto: Stefan Klüter

1984 in München geboren, ist Schauspielerin und Autorin. 2016 erschien ihr Buch »Die 100 wichtigsten Dinge« (mit Timon Kaleyta und Martin Schlesinger) im Hatje Cantz Verlag. 2009 war sie Kanzlerkandidatin der »Partei«, die damals allerdings nicht zur Bundestagswahl zugelassen wurde. Jüngst wurde sie für ihre medienkritische Kolumne »Wochenschau« (uebermedien.de) mit dem Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik ausgezeichnet.

Erinnern Sie sich noch? Vor einiger Zeit tauchte plötzlich die Notbremse auf. Und nun ist man offenbar tatsächlich doch auch so langsam gewillt, sie eventuell zu ziehen, auch wenn der Zug der Zügigkeit schon längst entgleist im Graben liegt.

Am Dienstag hat das Bundeskabinett in Berlin einen Gesetzentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen, damit eine bundeseinheitliche Notbremse in Kraft treten kann. Am Freitag wird die erste, am Mittwoch dann die zweite Lesung sein, bei der über den in vielen Punkten nicht konsequenten Vorschlag abgestimmt werden soll; laut ihm werden unter anderem SchülerInnen weiterhin schlechter geschützt als wirtschaftliche Interessen.

Verachtender Umgang mit unserer Zeit

Wenn man so zurückblickt, was in den letzten Wochen passiert ist, wird wohl kaum jemand bestreiten, dass wir, wie vielleicht nie zuvor in dieser Pandemie, großzügig kostbare Zeit vertrödelt haben. Dass man jedoch nun ausgerechnet die Schrauben des Privatlebens oder des öffentlichen Raums nochmal fester ziehen möchte, die nachweislich nicht zu den wirkungsvollsten gehören, ist der nächste verachtende Umgang mit unseren zeitlichen Ressourcen.

Ausgangssperren dienen nunmehr einer reinen Performanzpolitik. Durch sie wird eine Lösungsorientiertheit behauptet, die uns im Grunde nur in ein existenzielles Wartezimmer parkt und hofft, dass wir nicht bemerken, wie sinnlos es ist, das Leben da draußen zu verbieten, während viele Menschen nach wie vor gezwungen sind, in risikoreiche Büros und Produktionsstätten zu fahren.

Ich weiß nicht, ob wir uns in diesem gegenwärtigen Wartezustand eher in einem Prozess-Roman von Franz Kafka befinden oder an einer absurden Bushaltestelle in einem Stück von Samuel Beckett. Auf jeden Fall fühlt sich dieses neue Warten momentan wie eine Art pandemisches Purgatorium an, in dem die Bürger zur Perspektivlosigkeit verdammt sind und vom ständigen Bremsen und ruckartigem inzidenzbasierten Gasgeben ein Schleudertrauma nach dem anderen bekommen. Viel zu langer Notbremsweg inklusive. Durch das beliebte Auf-Sicht-Fahren schlängelt uns die Regierung durch einen düsteren Tunnel, in dem wir immerhin keine neuen Bergamo-Bilder bekommen und trotzdem aus der Wirtschaft keiner so richtig sauer werden kann.

Zeit ist ein wichtiges Instrument der Machtdemonstration. Das Wartenlassen, das Aussitzenwollen und das Hinauszögern sind kommunikative und politische Überlegenheitsgesten. In einer Situation jedoch, in der es auf jeden einzelnen Tag ankommt, ist das Wartenlassen das vielleicht subtilste Mittel der Entmündigung.

In seiner Forschung zur »Politik des Wartenlassens« nennt der Soziologe Javier Auyero diese Strategie die »Tempographie der Herrschaft« und bezeichnet Bürger, die aufgrund der Langsamkeit des Staates auf Resonanz warten müssen, passenderweise (und lange vor Corona) als »Patienten des Staates«.

Die dadurch entstehende gesellschaftspolitische Ohnmacht bekommen insbesondere benachteiligte Gruppen zu spüren, da sie die ausbleibende Selbstwirksamkeit schwerer kompensieren können als andere. Warten lassen unterdrückt. »Warten zu müssen«, erklärte der Psychologe Barry Schwartz, »insbesondere wenn man ungewöhnlich lange warten muss, bedeutet, Akteur der Behauptung zu sein, dass die eigene Zeit (und damit der eigene soziale Wert) weniger wert ist als die Zeit und der Wert desjenigen, der das Warten auferlegt«. Und weiter schreibt er: »Bestrafung durch die Auferlegung von Wartezeiten ist in ihren extremsten Formen erfüllt, wenn eine Person nicht nur warten gelassen wird, sondern auch in Unkenntnis darüber gehalten wird, wie lange sie warten muss.«

Selten hat sich die Politik der Kanzlerin entmutigender angefühlt. Man kann diese Lethargie wirklich nur noch als einen Akt der Politik interpretieren, der sich hart wie kein Lockdown zuvor gegen sozial Benachteiligte, Familien, SchülerInnen, Selbstständige, KünstlerInnen und gegen all die Menschen in den Gesundheitsberufen richtet.

Jetzt will die Regierung endlich »die Hilferufe der Intensivmediziner nicht überhören«, wie es im Pressestatement zum Infektionsschutzgesetz nun hieß. »Wir dürfen die Ärzte und Pfleger, [...] mit dieser Herkulesaufgabe nicht alleinlassen, wir dürfen sie nicht im Stich lassen«, sagte die Kanzlerin am Dienstag. Dabei hat die Regierung das vor 16 Tagen schon längst getan.

Source: spiegel

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