The Limited Times

Now you can see non-English news...

Sechs Präsidenten in fünf Jahren – ist Peru noch regierbar?

2022-12-15T20:35:58.419Z


Nach dem Putschversuch von Ex-Präsident Pedro Castillo befindet sich Peru im Ausnahmezustand. Dahinter steckt eine tiefe Krise des politischen Systems. Ist das Land noch regierbar? Bild vergrößern Die Polizei setzt in der Hauptstadt Lima Tränengas gegen Protestierende ein Foto: Martin Mejia / AP Er war einer von sechs peruanischen Präsidenten in den vergangenen fünf Jahren, und sein Absturz verlief noch ein wenig dramatischer als die der anderen: Am vergangenen Mittwoch saß Pedro Castillo vor einer Fernsehkamera und las ein Statement ab, um den ihm wenig zugeneigten Kongr


Bild vergrößern

Die Polizei setzt in der Hauptstadt Lima Tränengas gegen Protestierende ein

Foto: Martin Mejia / AP

Er war einer von sechs peruanischen Präsidenten in den vergangenen fünf Jahren, und sein Absturz verlief noch ein wenig dramatischer als die der anderen: Am vergangenen Mittwoch saß Pedro Castillo vor einer Fernsehkamera und las ein Statement ab, um den ihm wenig zugeneigten Kongress aufzulösen: »Ich kann so nicht mehr weitermachen«, verkündete er. Ab sofort werde er mit einer Notstandsregierung per Dekret herrschen. Nur wenige Stunden später verhaftete die Polizei den flüchtenden Ex-Dorfschullehrer. Inzwischen behaupten einige seiner Verteidiger, er könne sich an nichts erinnern – seine Feinde hätten ihn möglicherweise unter Drogen gesetzt  und ihm ein paar Zettel in die Hand gedrückt.

Was klingt wie der mittelmäßige Plot einer TV-Komödie, ist Ausdruck einer tiefen politischen Krise, die Peru seit Langem prägt und nun an den Abgrund treibt: Seit Castillos gescheitertem Selbstputsch brennt das Land. Zu Beginn waren es nur seine Anhänger, die in den ländlichen Regionen protestierten, Straßen blockierten, Reifen anzündeten. Dann kamen mindestens sieben Demonstranten ums Leben, darunter ein 13-jähriger Junge, der, so schätzen Experten, wohl von Sicherheitskräften mit scharfer Munition erschossen wurde. »Jetzt haben sich die Proteste massiv ausgeweitet und das ganze Land erfasst«, sagt der Politikwissenschaftler Omar Coronel, »es herrschen Wut und Chaos.«

Übergangspräsidentin Dina Boluarte, die unter Castillo als Vize diente, hat den Ausnahmezustand erklärt. Das Militär ist im Einsatz, um kritische Infrastruktur zu schützen. Vor einer Woche noch galt Boluartes Amtsantritt als Beweis für die Resilienz der demokratischen Institutionen Perus – jetzt ist ihre Legitimität durch staatliche Repression und Gewalt bereits schwer angeschlagen. Demonstranten bezeichnen sie als »Mörderin«. Das Land scheint unregierbar.

Peru verschleißt politisches Personal in Rekordgeschwindigkeit. Nur eineinhalb Jahre dauerte die Amtszeit des glücklosen Castillo. Nun sitzt er in U-Haft, ihm wird Rebellion vorgeworfen. Der Ex-Bauer und Gewerkschaftsführer war für die linke Partei Peru Libre 2021 als Präsident angetreten. Im Wahlkampf trug er Cowboyhüte und erschien zu Pferd. Er gewann die Stichwahl gegen Keiko Fujimori, Tochter des ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori, der Peru bis 2000 als Diktator regiert hatte und heute wegen Menschenrechtsverbrechen und Korruption im Gefängnis sitzt.

Castillo profitierte von seiner Außenseiterrolle und dem Hass auf die Fujimoris – von den Eliten wurde er allerdings sofort als gefährlicher Marxist gebrandmarkt. »Dabei war er kein militanter Ideologe mit festen politischen Ideen«, sagt Politikwissenschaftler Coronel, »sondern ein Opportunist, der auch für eine Zentrumspartei hätte antreten können.« Im Kongress stieß der völlig unerfahrene Politiker auf großen Widerstand, seine Vorhaben wurden blockiert, seine Beliebtheitswerte sackten ab. Es kam zu rassistischen Attacken gegen ihn.

Aufgrund von Korruptionsvorwürfen wollte die Abgeordnetenkammer ihn bereits zweimal absetzen. Kurz vor dem dritten Amtsenthebungsverfahren wurde Castillo dann zum Möchtegern-Diktator und unternahm seinen Putschversuch, angeblich zur Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaat.

»Es klingt wie die Geschichte eines armen Bauern, der gegen eine Oligarchie gekämpft hat«, sagt der Politikwissenschaftler Rodrigo Barrenechea, »in Wirklichkeit sehen wir hier nur das nächste Kapitel in einem endlosen Kreislauf, der 2016 begonnen hat.« Damals musste Präsident Pablo Pedro Kuczynski zurücktreten, um einem erfolgreichen Misstrauensvotum durch den Kongress zuvorzukommen, »und er war kein Unterschicht-Champion, sondern ein wohlhabender, rechter Technokrat«.

Seither herrscht Instabilität in Peru. Das liegt vor allem am dysfunktionalen politischen System: Einerseits macht es die Verfassung dem Kongress ziemlich leicht, einen Präsidenten wegen »moralischer Unfähigkeit« abzusetzen. Andererseits verfügt auch dieser über die Macht, den Kongress unter bestimmten Umständen aufzulösen. »Von diesen politischen Waffen wurde in den vergangenen Jahren immer häufiger Gebrauch gemacht«, sagt Barrenechea, »es gibt keine Tabus mehr.«

Für noch entscheidender hält er jedoch ein anderes Merkmal der peruanischen Demokratie: »Wir haben keine etablierten Parteien.« Parteien seien in Peru nie besonders stark gewesen; und Diktator Fujimori mit seiner Anti-Establishment-Rhetorik, die sich auch gegen die Parteien richtete, habe ihnen schließlich den Todesstoß versetzt. Trotz des demokratischen Wandels ab 2001 hätten sie sich nie wieder von ihm erholt.

Wo keine Parteien sind, entwickeln sich auch keine professionellen Politiker. Immer wieder kamen in Peru Außenseiter an die Macht. »In die Politik gehen Lobbyisten, Opportunisten und Vertreter radikaler Splittergruppen auf der linken und rechten Seite des Spektrums«, sagt Barrenechea. »Es gibt schlicht niemanden, der die Fähigkeit hat, Menschen zu repräsentieren, Ärger oder Verzweiflung zu kanalisieren und in politische Antworten umzuwandeln.«

Dabei wäre das dringend nötig. Peru gehört zu den ungleichsten Ländern der Welt. 2020 kam es schon einmal zu einer massiven Protestwelle. Seit der Coronapandemie hat die Armut in weiten Teilen der Bevölkerung noch einmal zugenommen – zugleich starben nirgendwo sonst auf der Welt so viele Menschen an dem Virus im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung . Das Vertrauen der Peruanerinnen und Peruaner in die Politik und ihre demokratischen Institutionen ist entsprechend gering.

Dina Boluarte, die neue Präsidentin, ist nun die erste Frau an der Spitze des Andenstaats.Dennoch räumen die Experten auch ihr kaum politische Überlebenschancen ein: zu unvorbereitet, zu unerfahren sei die frühere Beamtin. Zudem fehle auch ihr die politische Basis. Angesichts der Proteste hat Boluarte für 2024 vorgezogene Neuwahlen angekündigt. Kaum einer glaubt, dass sie bis dahin durchhält.

»Was Peru braucht, ist ein neuer Gesellschaftsvertrag«, sagt der Politikwissenschaftler Omar Coronel, »und einen Prozess, der es Menschen ermöglicht mitzureden, ihre Interessen einzubringen.« Er denkt an soziale Reformen, kommunale Bürgerversammlungen, schließlich einen verfassungsgebenden Prozess wie etwa in Chile.

Für wahrscheinlicher hält er jedoch ein anderes Szenario. »Die Demokratie hat in Peru nicht deshalb mehrere autoritäre Putschversuche überlebt, weil ihre Institutionen so stark sind«, sagt er, »sondern weil die politischen Führer so schwach sind.« Für einen erfolgreichen Coup fehlt ihnen schlicht Talent, Macht und Rückhalt. Sein Kollege Barrenechea nennt das »Demokratie durch Versagen«. Wenn jedoch ein talentierter Populist daherkäme, dem es gelingen würde, die Menschen anzusprechen und der sich nur ein klein wenig geschickter anstellen würde als Castillo und seine Vorgänger, dann, so fürchten beide, könnte es damit schnell vorbei sein.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

BereichWas ist das Projekt Globale Gesellschaft?aufklappen

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

BereichWie sieht die Förderung konkret aus?aufklappen

Die Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt das Projekt seit 2019 für zunächst drei Jahre mit einer Gesamtsumme von rund 2,3 Mio. Euro – rund 760.000 Euro pro Jahr. 2021 wurde das Projekt zu gleichen Konditionen um knapp dreieinhalb Jahre bis Frühjahr 2025 verlängert.

BereichSind die journalistischen Inhalte unabhängig von der Stiftung?aufklappen

Ja. Die redaktionellen Inhalte entstehen ohne Einfluss durch die Gates-Stiftung.

BereichHaben auch andere Medien ähnliche Projekte?aufklappen

Ja. Große europäische Medien wie »The Guardian« und »El País« haben mit »Global Development« beziehungsweise »Planeta Futuro« ähnliche Sektionen auf ihren Nachrichtenseiten mit Unterstützung der Gates-Stiftung aufgebaut.

BereichGab es beim SPIEGEL bereits ähnliche Projekte?aufklappen

Der SPIEGEL hat in den vergangenen Jahren bereits zwei Projekte mit dem European Journalism Centre (EJC) und der Unterstützung der Bill & Melinda Gates Foundation umgesetzt: die »Expedition ÜberMorgen  « über globale Nachhaltigkeitsziele sowie das journalistische Flüchtlingsprojekt »The New Arrivals «, in deren Rahmen mehrere preisgekrönte Multimedia-Reportagen zu den Themen Migration und Flucht entstanden sind.

BereichWo finde ich alle Veröffentlichungen zur Globalen Gesellschaft?aufklappen

Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft .

Source: spiegel

All news articles on 2022-12-15

You may like

Trends 24h

Latest

© Communities 2019 - Privacy

The information on this site is from external sources that are not under our control.
The inclusion of any links does not necessarily imply a recommendation or endorse the views expressed within them.